Athe-aktuell: Wenn Menschen ihre Individualität verlieren
„Ich fühle mich sowohl mental als auch körperlich wie von einem Bus überfahren.“ Das waren die Worte einer Klassenkameradin, als die Klassen 10fsl1 und 10fsl3 von ihrem Ausflug zur Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Neuengamme zurückkamen. Auch wenn nicht alle diese Erfahrung als derart extrem beschreiben würden, so hat es doch einen einprägenden Eindruck auf einen jeden von uns hinterlassen.
① Gedenkbereich; ② Internationales Mahnmal; ③ Haus des Gedenkens; ④ Klinkerwerk; ⑤ Hafenbecken; ⑥ Mauerreste, des ehemaligen Gefängnisses; ⑦ Studienausstellung über die Gefangenen; ⑧ Ausstellung über die SS in den ehemaligen Garagen; ⑨ Waffenproduktion der ehemaligen Walther-Werke (in denen auch Häftlinge gearbeitet haben); ⑩ Steine, die den Standort der Holzbaracken kennzeichnen, sowie Seminarräume des Studienzentrums
Für alle die den Nationalsozialismus (NS) mit all seinen Folgen noch nicht im Geschichtsunterricht behandelt und auch sonst noch nichts oder nur wenig davon mitbekommen haben, hier eine kleine Zusammenfassung, um meinem folgenden Erfahrungsbericht folgen zu können: Die Ideologie des Nationalsozialismus hatte einige Gegner. Diese politischen Gegner wurden von Hitler 1933 in großen Teilen festgenommen. Für diese wurden dann die sogenannten Konzentrationslager (KZ) errichtet, in denen die Häftlinge misshandelt und zu Schwerstarbeit gezwungen wurden. Politische Gegner blieben allerdings nicht die einzigen Gefangenen. Homosexuelle, Arbeitslose und ganz besonders Juden und Zivilisten aus den vom dritten Reich besetzten Gebieten sowie viele andere Menschengruppen, die der Ideologie des NS-Regimes nicht entsprachen oder Widerstand leisteten, wurden in solche KZ’s deportiert. Welche Umstände in diesen herrschten, erfuhren wir Schüler aus dem 10. Jahrgang am 06. und am 10. Februar bei unserem Besuch in der Gedenkstätte des KZ-Neuengamme.
Um kurz nach 8 Uhr fuhr unser Reisebus vom Exerzierplatz los und brachte uns innerhalb von eineinhalb Stunden an einen Ort, dem Geschichte innewohnt. Wenn auch eine recht erdrückende. Schon als wir die ersten der riesigen Backsteinbauten aus dem Fenster des noch fahrenden Busses erspähen konnten, machte sich ein Gefühl der Beeindruckung in mir breit. Ganz ohne zu wissen, was früher an diesem Ort passiert ist, hätte man gewusst, dass etwas passiert ist. Denn nirgendwo sonst habe ich bislang derart lange Gebäude nur aus Backstein bestehend gesehen. Ganz besonders eine große Rampe, die man von der Straße aus gut sehen konnte, erregte meine Aufmerksamkeit. Doch erst stiegen wir beim ursprünglichen Eingang des ehemaligen Konzentrationslagers aus, wo wir noch etwas Zeit hatten, bevor unser weiblicher Guide kam. Diese nutzten einige für eine kleine Pause, andere gingen bereits los und sahen sich den vor uns liegenden Platz an. Links und rechts von der leeren Fläche befanden sich flächige mit Stein gefüllte „Gitter“, die die Grundrisse der bereits vor Jahrzehnten abgerissenen Holzbaracken kennzeichnen. Hier und auch in zweien der Backsteinbauten, die die Baracken vorne und hinten umschließen, haben vor gut achtzig Jahren die Häftlinge gewohnt. Oder eher gesagt: die Nächte verbracht. Bei den schrecklichen Bedingungen damals kann man wohl kaum von „wohnen“ reden.
Und wo wir schon bei diesen Bedingungen sind, kam schon bald unser Guide, um uns von genau diesen zu berichten. Alleine darüber könnte ich einen eigenen Artikel schreiben, also versuche ich mich kurzzufassen: Die über 100.000 Menschen, die zur damaligen Zeit im KZ-Neuengamme und dessen Außenlagern festgehalten wurden, litten neben den unmenschlichen Arbeitsbedingungen auch unter der gewalttätigen Behandlung der Wachmannschaften, dem Wetter, dem die dünne Häftlingskleidung im Herbst und Winter nicht annähernd angepasst war, sowie der nicht vorhandenen Hygiene, die für zahlreiche Erkrankungen sorgte, und an enormem Hunger. Je nach zu verrichtender Arbeit überlebten viele Menschen diese Tortur nicht länger als ein paar Monate. Innerhalb von sieben Jahren starben über 50.000 Menschen in Neuengamme und in den Außenlagern, was mehr als die Hälfte der Häftlinge ausmacht. Und das, anders als zum Bespiel im KZ Ausschwitz, nicht an gezieltem Massenmord (wenn auch in Neuengamme absichtliche Tötungen stattfanden), sondern vielmehr an den soeben genannten Faktoren: Krankheit, Hunger, Selbstmord.
Als wir wenig später Zeit hatten, uns die Ausstellung der Gedenkstätte anzusehen, in der man sich unter anderem einige Biographien der Überlebenden durchlesen konnte, wurde uns erst richtig bewusst, wie real diese Geschichten wirklich sind. Mit Fotos unterstützte Texte, die von Szenarien sprechen, die man sich gar nicht ausmalen möchte. Zeichnungen, die die damalige Stimmung in ein Bild umwandelten. Und Videos, in denen Überlebende von ihrem Leben im KZ sprechen. All das sind Dinge, die einem die damalige Geschichte nahebringen. Für mich persönlich waren die vierzig Minuten, die wir hierfür bekommen hatten, viel zu wenig. So konnte ich lediglich in drei Biografien reingucken und mir einige Informationen über den Alltag damals durchlesen.
Danach lernten wir noch andere Ecken des Geländes kennen, wie eine ehemalige Fahrzeughalle, in der sich nun eine kleine Ausstellung über die SS befindet, das alte Hafenbecken, das von den Gefangenen unter schlimmsten Bedingungen ausgeschaufelt wurde, und das Klinkerwerk mit der dazugehörigen Rampe, in welchem die Produktion an Ziegelsteinen vonstattenging. Auch erfuhren wir von der Justizvollzugsanstalt, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges auf dem Gelände aufgebaut wurde und zu verantworten hat, dass sowohl das Krematorium als auch die Holz-Baracken abgerissen wurden. Erst 2006 wurde dieses Gefängnis endgültig geschlossen, sodass die Gedenkstätte errichtet werden konnte.
Abschließend besuchten wir das „Haus des Gedenkens“, in welchem meterlange Stoffbahnen an den Wänden hängen, auf welchen – nach Todesdatum sortiert – all die Namen der bekannten Toten geschrieben stehen. Es gibt keinen Tag, an dem nicht mindestens drei Namen notiert sind, was nicht nur erschreckend, sondern auch unfassbar traurig ist.
Die Rückfahrt im Bus verlief etwas ruhiger als die Hinfahrt. Viele hörten Musik oder schliefen, wie um das Erfahrene zu verarbeiten. Hierbei kann ich natürlich nicht für alle sprechen, da einige interessierter an der deutschen Geschichte sind als andere. Und wieder einige diese näher an sich heranlassen als ihre Mitschüler. Meiner Meinung nach ist es wichtig, dass ganz besonders sensible Leute eine gewisse Distanz zu bewahren versuchen, da dieser Teil unserer Geschichte einem sehr nahegehen kann. Doch genauso wichtig ist es, diesen Besuch der Gedenkstätte Neuengamme auch bei den folgenden Jahrgängen fortzuführen, damit die Verbrechen der Vergangenheit nicht vergessen werden und wir sie nicht wiederholen.
Ich habe lange darüber nachgedacht, wie ich diesen Artikel schreiben soll. Letztendlich war es mir wichtig, dass ihr zumindest ein paar der Informationen erfahrt, die auch mir mitgeteilt wurden. Nur so könnt ihr am besten verstehen, was ich an diesem Tag erlebt habe. An die folgenden zehnten Klassen appelliere ich, in diesem Besuch eine Chance zu sehen, Neues zu erfahren. Denn unsere Geschichte ist nicht nur schrecklich, sondern auch sehr interessant.
von Julie Poulain