Athe-Hintergrund: Eine Saturntüte voll Bücher
Donald Trump hat sie salonfähig gemacht. Die AfD nutzt sie zur Provokation auf allen Kanälen. Und die Jugend von heute wird mit ihnen sozialisiert. Fake News sind wortwörtlich in aller Munde – umso wichtiger, sie in den Schulen zu thematisieren. Noch besser, wenn intrinsische Motivation bei den Schülerinnen und Schülern, die täglich von schlechten und falschen Nachrichten bombardiert werden, für ein Thema vorhanden ist. Spätestens, als ein „deepgefakter“ Wolodymyr Selenskyj am Smartboard die Kapitulation der Ukraine verkündet, ist auch beim letzten Teilnehmer des Seminarfaches „Fake News und Qualitätsjournalismus“ das Interesse erweckt, sich näher mit einer der größten aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen der Menschheit zu beschäftigen. Zumal unser Kurs schneller von der Realität eingeholt wird, als man eine Hausarbeit schreiben kann. Aber dazu später mehr.
„Hinter jedes Zitat eine Quellenangabe…!?“
Im September 2022 starten 22 wissbegierige Schüler mit Vorträgen über die für viele überraschend große Bandbreite der „gefälschten Nachrichten“ und waren mittendrin in einer Welt, die sie vorher noch mit anderen Augen gesehen hatten. Es ist eine Mischung aus Faszination und Erschrecken, die während der Schülerpräsentationen in der Luft liegt. Die Coronakrise befindet sich zu diesem Zeitpunkt in den letzten Zügen, die Begleiterscheinungen sind aber noch präsent. Schnell kommt man von Filterblasen zu Verschwörungstheorien, beginnt zu hinterfragen und zu überprüfen. Ist das eine valide Quelle unter dem Text? Gibt es Anzeichen auf eine Fälschung in dem Bild? Kann das Video an dem Tag an diesem Ort aufgenommen worden sein? Die Schüler werden schnell zu Experten, wobei sie sich ihr Wissen zu großen Teilen selbst beibringen. Das sollte sich ändern, als die im 1. Semester vorgegebenen Hausarbeiten in den Fokus rückten. Ein Gastvortrag einer Expertin und Lehrervorträge, Übungsaufgaben und Scripte bereiteten die Schüler auf ihre erste wissenschaftliche Arbeit vor. Dass aber tatsächlich hinter jedes Zitat eine Quellenangabe gesetzt werden muss…? Nein, das waren keine Fake News, sondern eine wissenschaftliche Regel, die es zu befolgen gilt.
Auch gehört zum Lernprozess, dass eine Hausarbeit, die nur auf Internetquellen aufbaut, nicht mehr ausreichend sein kann. Fehler machen und aus Fehlern lernen. Dafür ist das Seminarfach schließlich gedacht. Doch es werden nicht nur trocken wissenschaftspropädeutische Informationen aufgenommen. Denn nach der fünfseitigen Hausarbeit ist vor der 15-seitigen Facharbeit – und dafür benötigt man Material. Also machen wir eine digitale Fortbildung zum Thema „Recherche in Onlinekatalogen und Datenbanken“, wir fahren aus Stade in die Bücherhalle nach Hamburg und staunen: „So viele Bücher gibt es hier? Jetzt habe ich schon so viele Quellen gefunden, aber keine Tasche mitgenommen…“ Dieses Problem einer Schülerin konnte im nahgelegenen Elektronikmarkt gelöst werden – und mit einer Saturntüte voll Literatur nach Hause zu kehren, fühlt sich im ersten Moment nach Arbeit an – aber am Ende erleichtert es diese, wie mir in den vielen Sprechstunden während des Entstehungsprozesses der Facharbeit erzählt wird.
Ein Gesicht des „Qualitätsjournalismus“
Ein Highlight während dieser Zeit ist eine Videokonferenz mit dem Spiegel-Journalisten Patrick Beuth. Über eine Stunde nimmt er sich in der Berliner Redaktion Zeit, den Schülerinnen und Schülern fachkundig Frage über Frage zu beantworten, druckreife Zitate für die Facharbeiten zu liefern – und vor allem: Dem Qualitätsjournalismus ein menschliches Gesicht zu geben. Denn auch darum geht es in diesem Seminar: Den Schülern zu verdeutlichen, was guter Journalismus ist – und dass wissenschaftliches Arbeiten sich in vielen Punkten nicht von der Arbeit eines Journalisten unterscheidet. Entsprechend lauten die Titel der Facharbeiten auch etwas anders als noch bei den Hausarbeiten, bei denen primär über Verschwörungstheorien und die Folgen von Fake News geschrieben wurde. Nun machen sich die Schüler beispielsweise Gedanken über die Entwicklung des Lokaljournalismus und analysieren, wie neutral die Berichterstattung über den Klimawandel eigentlich ist. Und auch die Zitierweise klappt nun besser, wenn auch im Literaturverzeichnis noch immer so manche Internetquelle zu finden ist…
Endlich an die praktische Arbeit: Das Medienprojekt
Neben diesen Höhepunkten im Kontext der Facharbeiten steht mit dem Frühling zum Ende des zweiten Semesters die Kür vor der Tür. Ich habe dieses Seminar auch deswegen angeboten, weil ich mein im Laufe der Fortbildungsreihe „n-Report“ erworbenes Wissen mit den Schülern teilen wollte. Und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen. Ich lese mein Essay vor, welches unter dem kreativen Einfluss des Steinhuder Meers bei der Auftaktveranstaltung in Wunstorf entstanden ist. Stolz präsentiere ich dem Kurs den mit meinen Lehrer-Kollegen im Heise-Verlag produzierten Video-Podcast. Ich zeige die Videoreportage aus dem Platten-Laden in Hannover. Ich lasse meine Fotoreportage aus dem Fargus-Werk in Alfeld an der Leine auf dem Smartboard erscheinen. Und wie ich da so stehe, ergreift mich ein wenig Wehmut. Die Fortbildungen waren zum einen herausfordernd, weil unter Zeitdruck Projekte entstehen mussten, die dem eigenen Anspruch entsprechen sollten. Sie bedeuteten aber auch den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen anderer Schulen und Schulformen, Fachgespräche auf hohem Niveau und Diskussionen mit echten Experten ihres jeweiligen Fachgebietes. Dabei war die Atmosphäre stets locker produktiv.
Während ich diese Zeilen schreibe, schließt sich der Fortbildungskreis mit der letzten Veranstaltung, erneut am Steinhuder Meer. Ein sehr intensives Schuljahr liegt hinter mir. Vor mir liegt nun die Belohnung: Die Hoffnung, dass die Schülerinnen und Schüler in den kommenden Wochen ihr eigenes Medienprojekt realisieren, auf das sie ebenso stolz sein können. Ich habe das nötige Equipment für Podcast, Video- und Fotoreportagen besorgt. Die Schülerinnen und Schüler haben zu den erwähnten journalistischen Produktionsformen Vorträge gehört, sich ein Thema gesucht und in Teams eingeteilt. In den kommenden Wochen werden sie fotografieren, podcasten, drehen, schneiden und texten. Die vom n-Report ausgelobten Preise motivieren zusätzlich, wobei die besagte intrinsische Motivation ohnehin hoch ist. Nach der wissenschaftlichen Arbeit können die Schülerinnen und Schüler nun kreativ werden, einfach loslegen. Darauf haben sie gewartet.
Der Papst im Daunenmantel
Die Ukraine hat derweil noch immer nicht kapituliert. Stattdessen sieht man Bilder des russischen Präsidenten Wladimir Putin, wie er gemeinsam mit US-Präsident Joe Biden kocht und im Morgenmantel spazieren geht. Natürlich sind auch diese Bilder gefakt. Doch diesmal war es kein Mensch wie Selenksyj, der ihm die Kapitulation in den Mund legte. Die Bilder wurden von einer KI, einer künstlichen Intelligenz erzeugt. Dank dieser läuft auch der Papst mit einem weißen Daunenmantel durch die Gegend. Es gibt weder die Gegend noch den Daunenmantel in der realen Welt. Das Seminar wird also im laufenden Prozess von der Realität eingeholt, der Begriff Fake News noch einmal auf ein ganz anderes Niveau gehoben, das Prüfungsformat Hausarbeit zur Disposition gestellt. Die gesellschaftlichen Herausforderungen werden durch die neuen Entwicklungen nicht kleiner. Die Bedeutung des Seminars „Fake News und Qualitätsjournalismus“ und der Fortbildung „n-Report“ ebenso wenig. Im Gegenteil. Und das ist doch eine gute Nachricht.
von Benjamin Mathews
Zur Person: Benjamin Mathews unterrichtet am Gymnasium Athenaeum in Stade die Fächer Deutsch und Sport und ist Leiter der Jugendreporter. In diesem Jahr gab er zudem das Seminarfach „Fake News und Qualitätsjournalismus“, welches mit der Fortbildung n-Report verknüpft wurde.