Nachgedacht über…: Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus
Flüchtlingskrise, Coronakrise, Energiekrise – wie finden wir in Zeiten der Krisenpermanenz unseren Optimismus? Lehrer Benjamin Mathews hat sich darüber vor einiger Zeit seine Gedanken gemacht – und möchte diese nun mit euch teilen. Zur Information: Der Text entstand Ende des Jahres 2022 – ist aber so aktuell wie nie zuvor…
Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Wer wurde nicht schon einmal mit diesem Spruch getröstet, aufgebaut, beruhigt? Oder hat ihn sich selbst wie ein Mantra vorgesagt? Wie Balsam legte er sich auf unsere Seele, wenn wir einen schlechten Tag hatten. Und war es nicht auch so? Man hat in der Schule eine Klausur verhauen – die nächste schreibst du besser, lerne vorher einfach mehr. Die erste große Liebe gab einem den Laufpass – na und? Die wahre Liebe wird noch kommen. Vielleicht nicht morgen, aber irgendwann. In Tschernobyl gab es eine Kernschmelze – ein Glück ist das weit weg, der Wind steht günstig und bald bekommt das Kraftwerk einen Sarkophag. In Somalia ist ein Bürgerkrieg ausgebrochen? Schlimm, aber gab es da nicht schon immer Mord und Totschlag? Was solls? Wir gönnten uns ein schönes Abendessen, stellten uns unter die warme Dusche, schauten eine Folge unserer Lieblingsserie und stiegen in unser warmes Bett. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus.
Wir leben schließlich in einem reichen Land, sind privilegiert. Es war so einfach. Die persönlichen Misserfolge wurden mit Konsum kompensiert, die wirklichen Krisen dieser Welt waren weit weg in unserem kuscheligen Wohnzimmer mit der Sofaliegewiese und dem überdimensionierten Fernseher. Überhaupt: Krise. Psychologisch spreche man von einer Krise, wenn das Leben in irgendeiner Weise eingeschränkt sei, sagte Diplom-Psychologe und Marktforscher Stephan Grünewald vom Kölner Rheingold-Institut in Zeiten der Finanzkrise im Jahr 2012 im Deutschlandfunk. Rückblickend war diese Krise vielleicht ein Einstieg, ein Vorbote. Zehn Jahre später, im April 2022, gibt Grünewald wieder ein Interview, diesmal der Tageszeitung „Welt“. Die Flüchtlingskrise und die Coronakrise liegen hinter uns beziehungsweise wir sind noch mittendrin, gelöst sind die Probleme und Folgen noch lange nicht. Der Ukraine-Krieg ist gerade ausgebrochen, eine Energiekrise zeichnet sich schon am dunklen Horizont ab. Per definitionem sind wir nun endgültig in der Krise – und zwar nicht nur in einer. Turnhallen werden für Flüchtlinge gesperrt, in Corona betreiben wir „Social Distancing“ oder bleiben am besten gleich zuhause: Ausgangssperre. Immerhin wird unser Wortschatz erweitert. Derzeit schnellen die Gas- und Strompreise in die Höhe, nicht wenige Menschen wollen oder können ihre Wohnungen nicht mehr heizen, Lieferketten sind unterbrochen, Unternehmen stellen ihre Produktion ein. Das Leben der Deutschen ist eingeschränkt, die Krisen geben sich die Klinke in die Hand oder kumulieren sich. Grünewald prägt den Begriff der „kafkaesken Krisenpermanenz“. Wenn es also in vergangenen Zeiten Krisen gab, so gibt es einen entscheidenden Unterschied zu den heutigen: „Früher hatte man das Gefühl, die Krise ist endlich. Und man kann die Krise wie eine Sau durchs Dorf treiben. Heute ist man in einem globalen Dorf ohne Ortsausgang.“ Was Grünewald meint, wird einem spätestens klar, wenn man sich mit einer in diesem Artikel noch unerwähnten Krise beschäftigt, die alle anderen in den Schatten stellt. Wobei das mit dem Schatten so eine Sache ist. Denn Schatten gibt es nicht mehr, zumindest zu wenig – und Regen noch viel weniger. Oder wenn doch, dann zu viel auf einmal, sodass es Überschwemmungen gibt – und der Boden trotzdem trocken bleibt, weil er so ausgedörrt ist, dass er kein Wasser aufnehmen kann. Klingt komisch, ist es aber nicht, das nennt sich Klimakrise – und auch in dieser sind wir mittendrin. Der Sommer 2022 ist der wärmste in Europa seit Beginn der Wetteraufzeichnungen gewesen. Waldbrände in Spanien, Portugal und Frankreich hat es immer mal wieder gegeben. Aber in diesem Jahr brennt der Brocken im Harz. Zum Glück ist es überwiegend Totholz, was da brennt, die Bäume sind schon vor Jahren oder Monaten abgestorben, dem dürreliebenden Borkenkäfer sei Dank. Immerhin gibt es noch den Urwald im Amazonas. Aber auch der schrumpft. Laut Greenpeace werden pro Minute 42 Fußballfelder gerodet. Mittlerweile ist klar: 26 Prozent des Regenwaldes sind zerstört. Das Schlimme: Der sogenannte „tipping point“, ein Kipppunkt, an dem das gesamte Ökosystem kollabieren und innerhalb von Jahrzehnten zur Savanne werden könnte, ist nicht mehr weit weg. Damit wären alle Klimaziele der Welt mehr oder weniger obsolet, zumal nicht nur im Amazonas und auf den letzten Gletschern irreversible Schäden drohen. Es hängt alles mit allem zusammen, insofern sind Amazonas und Harz nicht weit voneinander entfernt. Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus? Der Spruch bekommt im Angesicht dieser Krisenpermanenz eine andere, bedrohliche Semantik. Der heiße Sommer 2022 ist bald Vergangenheit. Aber: Wahrscheinlich war er noch einer der kühlsten im Vergleich zu denen, die folgen werden. Die Weltuntergangsuhr, eine symbolische Uhr der der Zeitschrift „Bulletin of the Atomic Scientist“, steht derzeit auf 100 Sekunden vor Mitternacht. Sie verdeutlicht der Öffentlichkeit, wie groß das Risiko einer globalen Katastrophe, insbesondere eines Atomkrieges oder der Klimakatastrophe, ist. Zum Vergleich: 1991 stand die Uhr auf 23:43 Uhr. Unsere Zeit läuft also ab, wenn wir nicht entschieden gegensteuern. Das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) teilte dieser Tage mit, dass die Krisen dieser Welt die Entwicklung der Menschheit um fünf Jahre zurückgeworfen hätten. Aber einen Lerneffekt scheint es nicht zu geben. So sagt UNDP-Leiter Achim Steiner konsterniert: „Die Welt taumelt von Krise zu Krise, gefangen im Kreislauf des Feuerlöschens, ohne dass die Wurzeln unsere Probleme angefasst werden.“ Selbst wenn man wollte, man kann sich den ganzen schlechten Nachrichten nicht entziehen. Unentwegt prasseln sie auf einen ein. Es gibt immer eine Person auf der Arbeit, am Telefon oder zuhause, die einen mit „bad-news“ konfrontiert. Es passiert derzeit einfach zu viel. Krisenpermanenz. Zum Glück ist der Mensch gut im Verdrängen. Doch was, wenn ein Verdrängen nicht mehr möglich ist, weil die Probleme mittlerweile vor der Haustür, also am Brocken, stehen und nicht mehr nur in Somalia oder im Amazonasgebiet? Frage ich meine Großmutter, die mit ihren 90 Jahren eine Menge miterlebt hat, hoffe ich immer auf Optimismus in ihren Worten. „Oma, fühlt es sich nur so an, als würde alles immer schlimmer? Oder ist es wirklich so?“ Ihre Antwort fällt desillusionierend aus. „Früher hatten wir Krieg und Hunger. Aber wir wussten, dass es irgendwann besser werden würde. Jahrelang ging es nur bergauf.“ Und dann fragt sie mich, während sie auf meinen zweijährigen, im Kuchen stochernden, Sohn blickt: „Seid ihr sicher, dass ihr noch ein zweites Kind in diese Welt setzen wollt?“ Die Frage ist berechtigt. Und doch frage ich mich: Wo ist der Optimismus in dieser Krisenpermanenz? Ist er nicht gerade jetzt so wichtig? Ein Ausblenden und Verdrängen der Krisen können ebenso wenig wie Eskapismus die Lösung sein. Vielmehr ist es sinnvoll, Kraft und Antrieb aus den Krisen zu schöpfen, auch wenn dies zunächst paradox klingt. „Ohne positives Denken, ohne Zuversicht und ohne die optimistische Erwartung, dass es besser wird, kann der Mensch auf Dauer nicht überleben“, erzählte der Hamburger Zukunftsforscher Horst Opaschowski inmitten all der Krisen n-tv.de. Diese Aussage ist logisch. Würden wir alle in Schockstarre verfallen, wer sollte dann das Ruder doch noch rumreißen? Noch steht die Uhr schließlich 100 Sekunden vor und nicht nach zwölf. Lutz Peter Eklöh sekundiert Opaschowski im oben genannten Beitrag. Er muss es wissen, schließlich ist er Vorsitzender des Hamburger „Clubs der Optimisten“. Seine Meinung gibt dann doch etwas Hoffnung, allerdings macht diese auch deutlich, dass Optimismus allein nicht reichen wird. Es gehe auch darum, anzupacken, einen Neuanfang zu starten: „Es gibt keine Situation, aus der man nicht etwas ziehen kann. Krisen sorgen dafür, neue Lösungsansätze zu finden.“ Krisen haben wir derzeit genug. Und auch an Lösungsansätzen mangelt es nicht. Ein massiver Ausbau der erneuerbaren Energien, Tempolimits und Verzicht sind zumindest in der Klimakrise erste Ansätze. Weil es aber noch am politischen Willen mangelt, diese umzusetzen, ist jeder Einzelne von uns gefragt, Lösungen zu entwickeln, weiterzutragen und umzusetzen. Das gilt für alle Krisen. Also los. Morgen sieht die Welt schließlich schon wieder anders aus…
von Benjamin Mathews
Was ist ein Essay? Nach der Duden-Definition ist ein Essay eine Abhandlung, die eine literarische oder wissenschaftliche Frage in knapper und anspruchsvoller Form behandelt. Einen Essay schreiben heißt also wissenschaftliches Schreiben, eine kritische Auseinandersetzung mit einem Thema. Ausgangspunkt für einen kritischen Essay ist in der Regel ein Problem, eine strittige Frage oder eine These, die in dem Essay bewusst subjektiv diskutiert werden soll. Dabei benötigt der Einstieg in den Essay/in das das Thema einen Aufhänger. Es muss klar werden, warum Sie sich zu diesem Zeitpunkt mit dem gewählten Thema auseinandersetzen und weshalb Sie dem Thema eine gewisse Relevanz zusprechen. (Quelle: Uni Flensburg)